Die leere Menge enthält keine Elemente. Diesen nicht vorhandenen Elementen kann man daher beliebige Eigenschaften zuschreiben oder beliebige Aussagen über sie machen, ohne dabei etwas Falsches zu sagen.
Es folgen zwei Beispiele, in denen die (nicht vorhandenen) Elemente der leeren Menge eine Rolle spielen.
In der Geschichte aus dem Neuen Testament über Jesus und die Ehebrecherin sind zwei mathematische Prinzipien enthalten:
1 Jesus aber ging an den Ölberg.
2 Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm; und er setzte sich und lehrte sie.
3 Aber die Pharisäer und Schriftgelehrten kamen und brachten ein Weib, und stellten sie in die Mitte.
4 Und sie sprachen zu ihm: Meister, wir haben diese Frau ergriffen im Ehebruch auf frischer Tat.
5 Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche zu steinigen; was sagst du? (3. Mose 20.10)
6 Dieses aber sprachen sie, um ihn zu versuchen, auf dass sie eine Sache wider ihn hätten. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
Jesus braucht Zeit zum Nachdenken. Denn er steckt in der Zwickmühle: Ruft er dazu auf, die Frau zu steinigen, verstößt er seine eigenen Grundsätze der Gewaltlosigkeit, der Barmherzigkeit, der Vergebung der Sünden. Fordert er aber dazu auf, die Frau nicht zu steinigen, verstößt er gegen das Gesetz Mose, und darauf warten die Pharisäer und Schriftgelehrten nur.
7 Als sie aber nicht aufhörten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.
8 Und er bückte sich und schrieb auf die Erde.
Nun brauchen die Pharisäer und Schriftgelehrten Zeit zum Nachdenken...
9 Als sie aber das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem anderen; und Jesus ward allein gelassen und die Frau in der Mitte stehend.
10 Da sprach er zu ihr: Nun, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich jemand verdammt?
11 Sie aber sprach: Nein, Herr, niemand. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!
Um nicht gegen das Gesetz Mose zu verstoßen, fordert Jesus die Pharisäer und Schriftgelehrten auf, die Frau zu steinigen – lediglich mit einer ganz kleinen Zusatzregel über die Reihenfolge der Steine. Jeder darf Steine werfen, so viele er will. Einzige Einschränkung: Der erste Stein soll geworfen werden von jemandem, der ohne Sünde ist.
Da die Menge derer, die ohne Sünde sind, leer ist, läuft die Aufforderung, den ersten Stein zu werfen, ins Leere (Aufforderung an die Elemente der leeren Menge). Wo aber kein erster Stein, da kein zweiter Stein; wo aber kein zweiter Stein, da kein dritter Stein usw. – es fliegt also im Ergebnis überhaupt kein Stein (Prinzip der mathematischen Induktion).
Ende der Fünfzigerjahre ging ich in Kiel in den Kindergarten. Manchmal wurden wir, brav in Zweierreihen aufgestellt, in den nahen Park geführt. Dabei wurde gesungen. Ein Lied begann so:
Dass wir die Kieler sind, hoho,
das weiß ein jedes Kind, hoho,
wir reißen Bäume aus, ...
Mir war es damals sehr unangenehm, durch die Straßen zu ziehen und laut hinauszuposaunen, dass wir Kieler üble Umweltfrevler sind (obwohl das Wort "Umwelt" damals noch gar nicht erfunden war). Ich fand, wir sollten keine jungen Bäumchen ausreißen, und wenn wir es doch tun, sollten wir darüber lieber schweigen.
Der Text des Liedes ging aber noch weiter:
wir reißen Bäume aus,
wo keine sind.
Dies war für mich sehr verwirrend. Denn wo keine Bäume sind, kann man auch keine außreißen. Und wenn gemeint war, dass hinterher keine Bäume mehr da sind, hätte man es anders formulieren müssen.
Ich kam zu dem Schluss, dass wenn wir nur dort Bäume ausreißen, wo keine sind, die Sache nicht so schlimm ist. Zwar sind hinterher, nachdem wir die nicht vorhandenen Bäume ausgerissen haben, auch keine mehr da, aber vorher waren ja auch keine da. Es passiert also nichts. Es wird im Ergebnis kein Schaden angerichtet. Dies tröstete mich.
Es war meine erste Begegnung mit der leeren Menge.